GayNow-Artikel: Was ist queer?

Inhalt

    1. Der Begriff „queer“
    2. Komisch, seltsam, anders?
    3. Kein Thema für Reagan
    4. Queer Studies und der Queer Theory
    5. Sex und Gender
    6. Synonym für Lesben, Schwule und weitere Gruppen?
    7. Ein radikaler Begriff!

 

„Queer ist heute in den Augen von vielen ein neudeutsches Wort für alles was mit sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität zu tun hat.

Es ist eine Art sprachliches Sammelsurium der Randgruppen und in dem Sinne einfach praktisch, da hiermit ja alle inbegriffen sind und keine der verschiedenen Gruppen vergessen wurde. Andere sehen queer als homo-alternativ und wenn sie auf eine Indie-Party gehen wollen, meinen sie, dass eine „queer Party“ dem am ehesten gerecht wird.

Den eigentlichen Hintergrund und die wirkliche Bedeutung von queer ist leider den wenigsten bekannt. Allerdings ist die klare Definition des Wortes schon als solches schwierig, da das Konzept dass hinter queer steckt im Grunde nicht definiert werden möchte. Aber fangen wir lieber ganz von vorne an.

Wer ins Englischwörterbuch nach einer Übersetzung sucht findet als Ergebnis queer = komisch, seltsam, anders.

Dies stimmt auch als ursprüngliche Bedeutung.

Es wurde zu einem englischen Schimpfwort was dem us-amerikanischen „faggot“ ähnelt, also „Schwuchtel“ heißt. Ähnlich wie „schwul“ wurde queer von einem ursprünglich negativ konnotierten Begriff positiv umgedeutet. Queer wurde als kämpferische Selbstbezeichnung benutzt.

In den späten 80er Jahren in den USA taten sich radikale Aktivist_innen  zusammen die sich einerseits von der Mehrheitsbevölkerung und andererseits von der Gay Community ausgegrenzt fühlten.

Der Lesben- und Schwulenbewegung wurde unkritisches Verhalten in ihrem eigenen politischen Vorgehen vorgeworfen.
Der Vorwurf war, dass sie teils als „ethnische Gruppe“ dargestellt wurden, die ganz klare Eigenschaften haben. Dieses Bild bestand aus bürgerlichen, gut-verdienenden lesbischen und schwulen Pärchen die sich nach Anerkennung durch die Gesamtgesellschaft sehnen. Diese Darstellung wurde integriert in eine später als „pink economy“ bezeichnete kommerzialisierte Infrastruktur für Lesben und Schwule.

Gegen diese einheitlichen Bilder wie Lesben und Schwule sind und die Tendenz der schwul-lesbischen Ghettosierung haben sich radikale Aktivist_innen gewehrt und wollten einen politischen Gegenentwurf hierzu entwickeln.

Wild und schrill gekleidet gingen sie durch Einkaufszentren und veranstalteten „queer Politics“ in Form von provokativen Aktionen. Zeitgleich zu dieser Bewegung begannen sich auch die sozialen Probleme im Zusammenhang mit HIV/Aids zu verschärfen. Die Krankheit wurde in den Medien fast ausschließlich in Zusammenhang mit Schwarzen, Drogenabhängigen und Strichern gebracht, die als solche bereits gesellschaftliche Randgruppen waren und anlässlich dieser Darstellung in den Medien noch mehr Diskriminierung fürchten mussten.

Der damalige Präsident Ronald Reagan wollte das Thema noch nicht einmal ansprechen.

Und das obwohl politisches Handeln dringend benötigt wurde. Aus dieser Konfliktsituation entstand ein politischer Aktionismus der Wut und der Aggression, der sich in schriller Provokation artikulierte. Queer war eine Beleidigung, die Aktivist_innen aber nahmen ihn als kämpferische Selbstbezeichnung um so der verbalen Beschimpfung und gesellschaftlichen Ächtung die Schärfe zu nehmen.

Durch öffentlichkeitswirksame kiss-ins und die-ins haben sie an gut besuchten Orten auf die prekäre Lage von HIV-Infizierten und sozialen Randgruppen aufmerksam gemacht. Diese Aktionen wurden bevorzugt von Gruppen veranstaltet, die sich in verschiedenen US-Großstädten unter dem Titel „Queer Nation“ formierten. Im Rahmen dieser Veränderungen traten auch andere Gruppen wie die Lesbian Avengers (dt: Lesbische Rächerinnen) oder Transsexual Menace (dt: transsexuelle Bedrohung) auf, die sich ähnlich kämpferisch gaben.

Im Rahmen dieser Aktivitäten entstanden auch erste wissenschaftliche Ansätze, das Thema queer zu behandeln. Queer wurde ein universitärer Sammelbegriff für Gay and Lesbian Studies. Hier wurden alle sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten untersucht, die nicht der vorgegebenen Norm entsprechen. 1991 wurde queer in einer feministischen Zeitung von Teresa de Lauretis erstmalig in diesem Sinne thematisiert.

Um den Begriff wirklich zu verstehen, muss auch der wissenschaftliche Hintergrund der so genannten Queer Studies und der Queer Theory bedacht werden.

Einer der hierbei bedeutendsten Begriffe ist die Bezeichnung der Dekonstruktion, dekonstruieren heißt zerlegen, auflösen. Geschlechtliche und sexuelle Identitäten wie sie schwul, lesbisch, bi, trans- und intersexuell sind, werden hierbei in ihre verschiedenen „Teile zerlegt“.

Die Identität als schwul beispielsweise beruht auf Männern die andere Männer lieben und diese sexuell attraktiv finden.

Die Queer Theory hingegen unterteilt den Identitätsbegriff schwul wie auch andere Geschlechts- und Sexualitätszuschreibungen in die drei Aspekte Sex, Gender und Desire.

  • Sex ist hierbei im Englischen der Begriff des biologischen Geschlechts, sprich die körperlichen geschlechtlichen Merkmale,
  • Gender ist das soziale Geschlecht, wie die Gesellschaft das Individuum als geschlechtliches Wesen ansieht und behandelt und
  • Desire ist die Begierde, also das was eine Person als sexuell ansprechend empfindet.

Im Rahmen hiervon ist schwul ein männliches biologisches Geschlecht (Sex), ein je nach Person unterschiedliches soziales Geschlecht (Gender) und die sexuelle Begierde nach Männern.

Anhand dieser Aspekte analysiert die Queer Theory Identitäten und dekonstruiert, also zerlegt sie in ihre verschiedenen Bestandteile. Dementsprechend ist es viel eher eine Methode als eine Theorie. Diese Methode hat ihren Fokus auf dem von der gesellschaftlichen Norm Abweichenden. Das sozial vorgeschriebene Muster lautet, dass  zum Beispiel biologische Männer auch männlich behandelt werden, Jungs sollen beispielsweise nicht weinen oder Emotionen zeigen und Mädchen haben sich brav und still zu benehmen, und als Männer haben sie Frauen sexuell attraktiv zu finden.

Schwul widerspricht diesem Muster, einerseits fühlen sich Schwule vom gleichen Geschlecht hingezogen, andererseits tendieren manche Schwule zu einem effeminisierten, sprich sich eher weiblich gebenden, Verhalten.

Das gesellschaftlich vorgegebene Konstrukt, wie sich Männer und Frauen geschlechtlich und sexuell zu verhalten haben, wird als Heteronormativität oder auch als heterosexuelle Matrix beschrieben.

Unsere Gesellschaft ist eine heteronormative in dem Sinne, als das sie einerseits von der Heterosexualität als vorgeschriebene Norm ausgeht und andererseits nur 2 Geschlechter zulässt. Dass es mehr als 2 Geschlechter gibt, kann aber bereits anhand der Existenz von intersexuellen Menschen widerlegt werden, die sowohl männliche als auch weibliche körperliche Merkmale besitzen.

Diese Begrifflichkeiten und gedanklichen Anstöße wurden von der Philosophin und Philologin Judith Butler geprägt. Sie wird für ihr revolutionäres Werk „Gender Trouble. Feminism and the subversion of identity“ (deutscher Titel: „Das Unbehagen der Geschlechter„) sehr gelobt und gilt in diesem Zusammenhang als wichtigste Theoretikerin.
Sie wurde aber von vielen auch stark für ihre Thesen angefeindet. Insbesondere von einigen feministischen Theoretikerinnen, die ihr vorwarfen, sie nehme ihnen ihr Subjekt weg, mit dem sie arbeiten.

Denn wenn Frau nicht mehr einfach nur Frau ist, sondern jedes Individuum unterschiedlich auf den drei Ebenen Sex, Gender und Desire ist und es damit auch keine vorgefertigte Identität von „der Frau“ mehr gibt, dann können Frauen auch keine spezifischen Eigenschaften mehr zugeschrieben werden.

Viele Frauenrechtlerinnen argumentieren beispielsweise mit bestimmten Vorstellungen, wie Frauen „von Natur aus sind“, nämlich friedlich, sensibel, sozial kompetent und mitfühlend.

Butler vertritt die Ansicht, dass dies eine feste und starre Identität ist, die nicht auf die Hälfte der Menschheit generalisiert werden kann.

In diesem Sinne vertritt sie einen „anti-identitären“ Ansatz, der ein weiterer wichtiger Bestandteil von queer ist. Anti-identitär bedeutet sich gegen eine klare Identität aussprechend, wehrend.

Indem die Queer Theory alles in seine einzelnen Bestandteile zerlegt, gibt es in Bezug auf Geschlecht und Sexualität keine klaren und festen Identitäten mehr.

Im konsequenten Folgeschluss ist es aber auch nicht möglich zu sagen, was konkret eine queere Identität ist. Denn queer wehrt sich gegen Kategorien und klare Zuschreibungen als solche.

Wenn queer im Grunde keine feste Kategorie ist, wie kommt es dann, dass es zunehmend als Synonym für Lesben, Schwule und weitere Gruppen gilt?

Der Begriff queer wurde im Rahmen seiner Popularisierung auch immer häufiger im Zusammenhang mit der vereinfachten Definition von „der Norm abweichend“ beschrieben. Dies ist der Ansatz um es als Oberkategorie für alle sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten zu benutzen.

Zudem ist „queer“ als Begriff auch deutlich kürzer und handlicher als „Lesben, Schwule, Bisexuellen, Transsexuelle und Intersexuelle“ was im alltäglichen Sprachgebrauch vielen zu umständlich ist. Vermehrt wird gefordert, nicht nur die Situation von sexuellen Minderheiten wie Lesben, Schwulen und Bisexuelle, sondern auch die von geschlechtlichen Minderheiten wie Transidenten , Transgender und Intersexuellen zu thematisieren und daraus resultiert in verschiedenen Zusammenhängen auch die Nennung dieser Gruppen.

Hieraus entstanden die Abkürzungen LSBT (Lesbisch, Schwul, Bisexuell und Transsexuell) die wahlweise aber auch in Englisch benutzt wird in Form von LGBT (Lesbians, Gays, Bisexuals and Transsexual) die beide wahlweise noch ergänzt werden durch ein I am Ende also LSBTI beziehungsweise LGBTI um ebenfalls die Intersexuellen mit zu nennen. Dies wirkt für manche wie ein Abkürzungschaos und zudem wussten viele nicht was mit LSBT, LGBTI oder ähnlichen Buchstabenabkürzungen gemeint war.

Hier kam queer als kurzes einfaches und so scheinbar klares Wort in den Gebrauch.

Wer beispielsweise Artikel in der Siegessäule liest, findet hier fast ausnahmslos die Bezeichnung queer wo früher noch schwul-lesbisch stand. Dies passiert zwar in der guten Absicht, alle Gruppen mit einzubeziehen, es entspricht jedoch nicht der eigentlichen Bedeutung des Wortes und erst recht nicht seinem historischen und wissenschaftlichen Hintergrund.

Queer ist eigentlich ein radikaler, herrschaftskritischer und kämpferischer Begriff, der sich gegen Normen und ausgrenzende Systeme wehrt.

Viele Theoretiker_innen sehen in der Queer Theory und in dem Wort queer auch einen wirtschaftlich solidarischen und demnach kapitalismuskritischen Ansatz. Wenn die Siegessäule von „queeren 1-Euro-Jobs“ schreibt, entspricht diese sprachliche Nutzung absolut nicht der eigentlichen Bedeutung und des besonderen Charakters.

Verschiedene Organisationen benutzen das Wort in ihrem Titel, so zum Beispiel Queer Nations, ABqueer, aber auch Parteiorganisationen wie QueerGrün oder Die Linke.queer. Einerseits vertreten diese zwar viele Ansichten, die auch im Ursprung als queer gelten, andererseits sind sie aber alle fest institutionalisierte Organisationen. Und nach deutschen Recht kann keine Partei und kein Verein ohne Vorstand existieren. Jedoch bereits die Existenz eines Vorstandes der die Richtlinien der Organisation vorgibt bedeutet automatisch eine Hierarchie innerhalb der Organisation.

Queer aber stellte sich stets gegen klar strukturierte Macht-, Herrschafts- und Hierarchieverhältnisse. Die Selbstbezeichnungen entsprechen daher in vielen Aspekten nicht der Realität.

Wer oder was queer ist, kann aufgrund all dieser Aspekte keine einfach zu beantwortende Frage sein. Sicher ist aber, dass der inflationäre Gebrauch des Wortes konträr gegenüber seiner eigentlichen Bedeutung steht.

2 thoughts on “GayNow-Artikel: Was ist queer?

  1. Hallo Stefan,
    danke für deine tolle und sehr übersichtliche Zusammenfassung dieser komplexen Materie! Einen Punkt teile ich jedoch nicht: Problematisch an dem „Queer-Konzept“ ist weniger, dass Frauen/Männern keine spezifischen Eigenschaften mehr zugesprochen werden können, sondern dass vor allem bestehende soziale und ökonomische Unterschiede zwischen den Geschlechtern verwischt werden, was ein politisches Handeln erschwert. Das Überwinden von Geschlechterstereotypen und geschlechtsspezifscher Sozialisation war im Gegenteil ein sehr zentrales Anliegen der zweiten Frauenbewegung in Deutschland. LG Line

    1. Hallo Line,
      vielen Dank für deine Rückmeldung! Ich dazu schreiben, dass der Text von meinem Vorgänger geschrieben wurden, desse Einträge auf mich übergegeangen sind.
      Aber ich finde, dass du da Recht hast: es ist und bleibt ein ziemlicher Spagat, einerseits unterschiedliche Zuschreibungen und Stereotype zu überwinden, andererseits aber trennscharfe Interessenvertretung für tatsächlich benachteiligte Gruppen zu machen.
      LG stefan

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