GayNow-Artikel: Lesben- und Schwulenrechte in der Türkei

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„Wir werden in der Schule von unseren Klassenkameraden, Lehrern und Vorgesetzten verstoßen, erniedrigt, verspottet und verprügelt. Unsere Lehrbücher und die Lehrinhalte versuchen uns glauben zu machen, das wir diese Angriffe verdienen.“ Dieser Satz stammt aus einer Pressemitteilung eines Treffens von Lesben und Schwulen in der Türkei und veranschaulicht ihre prekäre Situation. Homosexualität ist in der Türkei nicht verboten, aber in fast allen sozialen Bereichen müssen Lesben und Schwule soziale Ächtung und Ausgrenzung fürchten. Das Thema Homosexualität gilt immer noch in den meisten sozialen Kreisen als Tabu.

Zwar existieren vereinzelt schwul-lesbische Organisationen und in den Großstädten beginnt sogar langsam sich eine eigenständige schwul-lesbische Szene zu entwickeln, trotzdem sind sie enormer staatlicher sowie gesellschaftlicher Gewalt ausgesetzt.

Human Rights Watch und türkische Menschenrechtsgruppen verweisen immer wieder auf Berichte, nach denen vor allem Schwule enormer physischer Gewalt ausgesetzt sind, einerseits von fundamentalistischen Muslimen denen beigebracht wird, es sei ein religiöser Akt Homosexuelle gewalttätig anzugreifen und andererseits von zumeist armen Jugendlichen denen erzählt wird, Schwule seien besonders reich und dekadent und daher gut aus zu rauben. Organisierte neofaschistische oder islamistische Gruppierungen observieren geradezu die schwulen Treffpunkte und lauern ihren potentiellen Opfern auf, um sie zu berauben, zu schlagen und zu terrorisieren.

Die Situation von Lesben ist weniger von öffentlicher Gewalt als viel mehr von Konflikten innerhalb der Familie geprägt. Durch die Weigerung zur Heirat werden sie extremem familiärem Druck ausgesetzt. Teilweise kommt es sogar zu Ehrenmorden um die Familienehre wiederherzustellen. Eine Ansprechperson haben türkische Lesben fast nie. Auf der Polizeiwache oder anderen staatlichen Institutionen erleben sie ebensolche Diskriminierung und Unkenntnis wie in ihren eigenen Familien.

Allerdings kommt es langsam zu Fortschritten für Lesben und Schwule in der türkischen Gesellschaft. Der Istanbuler CSD erfreut sich jährlich immer größerer Teilnehmendenzahlen und durch die Zusammenarbeit türkischer schwul-lesbischer Gruppen mit internationalen NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen) wird die Problematik auch in der westlichen Welt zunehmend bekannter. Die ursprünglich aus New York kommende Aktivistin Sophia Starmack von  Lambda Istanbul äußerte sich diesbezüglich: „Obwohl Homosexualität in der Türkei nicht illegal ist, gibt es keinerlei juristischen Schutz für LGBT , was sie sehr verletzbar gegenüber Diskriminierung und Gewalt macht. Obwohl in verschiedenen türkischen Städten Gruppen und Vereine gegründet wurden und obwohl es besonders in Istanbul eine lebendige Szene und ein queer-orientiertes Nachtleben gibt, sehen sich hier immer noch viele Leute sowohl in der Familie als auch auf Arbeit mit großen Problemen konfrontiert, wenn sie ihre sexuelle Orientierung öffentlich machen. Trotzdem haben wir das deutliche Gefühl, dass sich etwas ändert und verbessert. Zum Beispiel haben wir bei Lambda erst vor kurzem eine Gruppe für Familien und Freunde von LGBT ins Leben gerufen, und bis jetzt waren die Reaktionen sehr positiv.“

Der Istanbuler Verein Lambda kümmert sich seit inzwischen 16 Jahren um die Rechte und Belange von Lesben, Schwulen und Trans-Menschen. Der Verein hat wichtige Pionierarbeit geleistet. Gegründet wurde er 1993 anlässlich des Verbots der Aktivitäten rund um den CSD. Seit 2002 hat er ein Kulturzentrum, das täglich geöffnet hat und Filmabende, Literatur und eine entspannte Atmosphäre zum Reden und Diskutieren anbietet. Lambda Istanbul organisiert regelmäßig den lokalen CSD und ist an vielen weiteren Demonstrationen beteiligt. Der Verein hat zudem 2005 eine Studie veröffentlicht, in der sie mit wissenschaftlicher Unterstützung 393 Schwule, Lesben und Bisexuelle nach ihren Erfahrungen mit Diskriminierung befragt haben. Die Ergebnisse waren erschütternd: 23% berichteten von physischer Gewallt aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, 63% der Befragten sind gezwungen eine heterosexuelle Partnerschaft vorzutäuschen und 62% der Männer, die eine Befreiung vom Militärdienst beantragt haben, wurden zu einer medizinischen Untersuchung ihres Analbereiches gezwungen. Auf internationaler Ebene ist der Verein aktiv als volles Mitglied des ILGA (International Lesbian and Gay Association) tätig. Trotz oder vielleicht gerader wegen all dieser Aktivitäten musste sich der Verein stets gegen Anfeindungen und Beschimpfungen wehren und behaupten. Ein türkisches Gericht entschied am 29. Mai 2008, den Verein zu schließen. Er sei „unmoralisch“, so das Gerichtsurteil und zudem sei der Name Lambda nicht türkisch, was dem türkischen Vereinsgesetz widerspreche. Dass andere Vereine wie beispielsweise der Rotary-Club auch nicht vom Namen her türkisch sind und dies trotzdem nicht juristisch belangt wird, veranschaulicht die Bigotterie und Homophobie der Justiz in diesem Fall. Lambda Istanbul ist in Berufung gegangen. Der Fall ging bis zum obersten Gerichtshof der das Verfahren an ein Bezirksgericht weitergeleitet hat, dieses wiederum hat das Verbot abgelehnt. Der Istanbuler Gouverneur, der sich mehrfach für ein Verbot des Vereins eingesetzt hat, kann dieses Urteil vor dem Obersten Gerichtshof zwar anfechten, hiervon wird aber nicht ausgegangen.

Die Situation von Lesben und Schwulen ist eng verbunden mit den allgemeinen Geschlechterrollen der türkischen Kultur. Das Thema Schwule im türkischen Militär verdeutlicht dies sehr intensiv. Da Homosexualität als psychische Störung gilt, dürfen Schwule per Gesetz nicht zum Militärdienst eingezogen werden. Allerdings ist die Realität eine andere. Zum Beweis für ihre tatsächliche gleichgeschlechtliche Neigung wird von Schwulen oftmals verlangt, umfangreiches pornographisches Material dem Militär zur Verfügung zu stellen. Dies ist zwar eigentlich gesetzeswidrig, aber es ist nicht möglich hiergegen juristisch vorzugehen. Auf den Fotos oder Filmen müssen sie als passiver Sexualpartner beim Analverkehr zu sehen sein, denn nur ein Schwuler der sich penetrieren lässt, gilt als „echter Schwuler“. Passiv ist hierbei eng verbunden mit dem geschlechtlichen Rollenpart der Frau, und wird als solcher niedriger eingestuft in der sozialen Hierarchie als der des „aktiven Mannes“. Dies verdeutlicht zudem, inwiefern Dominanz und Macht die Geschlechterrollen in der türkischen Gesellschaft prägen. Hierbei ist zu betonen, dass das Militär innerhalb der türkischen Kultur eine immense Rolle spielt, es hat eine große politische Macht, dies drückt sich auch durch gesetzliche Einschränkungen aus. Ein türkischer Mann kann nicht Beamter werden, wenn er nicht seine Wehrpflicht abgeleistet hat. Sodass, selbst wenn ein Schwuler nicht zum Militär muss, er trotzdem direkter gesetzlicher Diskriminierung ausgesetzt ist. Das türkische Militär, ebenso wie schätzungsweise alle militärischen Vereine weltweit, ist strukturell schwulenfeindlich und beruht zu großen Teilen auf einer chauvinistischen Macho-Kultur.

Die Türkei ist ein Land im Umbruch und verschiedene sozio-ökonomische sowie politische Spannungsfelder treffen aufeinander: EU-Mitgliedschaft und die damit verbundene politische Orientierung der Türkei innerhalb der internationalen Gemeinschaft, die stetig umkämpfte Rolle der Religion in der Türkei, insbesondere in Bezug auf die Trennung zwischen Staat und Religion, sowie der touristische und internationale Einfluss auf die türkische Gesellschaft. Die eben genannten Spannungsfelder und Veränderungsprozesse beeinflussen natürlich auch die Situation von Lesben und Schwulen. Das Land hat in den letzten Jahren in vielen politischen Bereichen eine starke Liberalisierungsphase durchzogen, insbesondere was die individuellen Bürger_innenrechte  angeht. Dies ist zu großen Teilen auf die Reformprozesse aufgrund der Verhandlungen zur Aufnahme der Türkei in die EU zurückzuführen. Die Situation von sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten und der politische und juristische Umgang mit ihnen wird von der EU stark kritisiert. Doch da die Aufnahmeverhandlungen ins Stocken geraten sind und viele Teile der türkischen Gesellschaft aufgrund der schweren Verhandlungsprozesse der EU zunehmend kritisch gegenüber stehen, ist die politische Zukunft noch sehr unklar. Inwiefern diese Prozesse die tatsächliche Situation von Lesben und Schwulen in der Türkei beeinflusst, ist schwer abzuschätzen.

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